Vorbereitet auf den Startabbruch

„Du hast heute viel richtig gemacht“, Christoph legt sein Handy auf den Tisch. Alles, was er während der Fahrt beobachtet hat, ist darauf dokumentiert. „Eigentlich gab es nur einen wirklichen Fehler, gleich am Anfang: Du hast dich zu spät um die rote Leine gekümmert.“ Die ‚rote Leine‘ führt zum Parachute (oder der Schnellentleerung). Wenn an ihr gezogen wird, entweicht Luft aus der Hülle. Das wird zum Sinken gebraucht, vor allem beim Landen, kann aber auch beim Start wichtig werden. Denn so anscheinend schwerelos ein Heißluftballon am Himmel schwebt – er hat ein Gewicht von mehreren Tonnen. Allein eine 3000-Kubikmeter-Hülle, die mit heißer Luft gefüllt ist, wiegt 2,8 Tonnen – ohne Korb, Gasflaschen und Passagiere. Wenn die Hülle vor dem Start am Boden gefüllt wird, bietet sie erheblichen Luftwiderstand und kann leicht von Windböen erfasst werden. Immer wieder kommt es in dieser Phase zu Luftfahrtunfällen, z.B. weil die Autos, an denen die Ballone gefesselt sind, angehoben werden, versetzen oder umkippen. Deshalb ist es eine wichtige Regel, beim Auspacken der Hülle als Erstes die rote Leine freizulegen. Und beim Heißfüllen, wenn die kalte Luft in der Hülle erwärmt wird, so dass sich der Ballon aufrichtet, hält der Pilot diese Leine jederzeit griffbereit. „Susanne, immer dran denken: Während eines Starts kann ganz viel passieren. Es gibt Böen, Zuschauer laufen in den Weg oder Tiere… Manchmal ist alles irgendwie verrückt. Aber egal, was passiert: mit einem Zug an der roten Leine hast du die Gefahr gebannt. Du musst jederzeit in der Lage sein, den Start abzubrechen.“ Nicht zu starten ist gelegentlich für Ballonpiloten die sicherste Entscheidung.

An dieses Erlebnis musste ich denken, als die Nachricht zu meinem Vorstandstermin kam: Das ganze Team hatte ihn vorbereitet, mehrere Wochen lang. Alle waren angespannt, weil der Termin an einem Tag stattfinden sollte, der für den Vorstand mit diversen Projektsteuerkreisen vollgepackt war. Damit nichts dazwischenkommen konnte, hatten die Assistenzen mich gleich am Morgen eingeplant. Bis sich 24 Stunden vor dem Termin doch die Prioritäten änderten. Das kann passieren. Mein Vorschlag, am besten alles auf die Folgewoche zu verlegen, stieß trotzdem auf Ablehnung, denn was ich zu berichten hatte, war Teil einer Kette von Entscheidungen. Als einzige Möglichkeit blieb der Abend, verbunden mit dem Kommentar: „Das wird schon klappen … bestimmt … wenn die Steuerkreise alle pünktlich enden…“ Aha. Drei Großprojekte, keines wirklich im Zeitplan; es ging um mehr Budget oder weniger Scope, um Abhängigkeiten und Außenwirkung. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich die Stimmung vorzustellen, die herrschen würde, wenn ich an der Reihe war. Manche Themen verbrennt man, wenn man sie zum falschen Zeitpunkt anspricht, und wichtige Botschaften kommen nicht an, wenn dem Gegenüber der ganze restliche Tag ‚über den Ohren hängt‘. Die Kunst besteht darin, das rechtzeitig zu erkennen – und eine Strategie zu haben, den Start abzubrechen.

Im konkreten Fall: Eine Zusammenfassung der Situation in fünf Stichpunkten, so dass der Vorstand entweder sofort am für ihn wichtigsten Punkt nachhaken konnte oder entscheiden, wie dringlich er mehr wissen wollte. Der geplante 45 min-Termin konnte so auf einen 3 min-Pitch schrumpfen – und gegebenenfalls einen Folgetermin.

Wie erwartbar verlief der Tag chaotisch. Noch 10 min vorher war unklar, ob mein Termin stattfinden würde und, falls ja, für wie lange. Es ließ mich erstaunlich kalt, denn ich war ja auf den Startabbruch vorbereitet. Damit hatte ich das Gefühl von Kontrolle. Wahrscheinlich lief der Termin auch deshalb so gut. Und ich bekam sogar die ursprünglich geplanten 45 min.

‚Rote Leine freilegen und befestigen‘ habe ich jetzt auf meiner Fahrtcheckliste markiert – natürlich in Rot.

Bildnachweis: Frank Kuschmierz (iStock photo)

Über die Autorin
Susanne Patig

BWL studiert, in Informatik promoviert, branchenunabhängig unterwegs in Großprojekten und Transformationen. Fan von Perspektivwechseln.

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