Manchmal musst du dich ‚breit‘ machen

Ballon fahren ist ein Teamsport – alle wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Ohne Verfolger geht es zum Beispiel nicht. „Heute für dich, morgen für mich“ ist deshalb ein typisches Motto, nach dem angehende Ballonpilot:innen (ich) auch das Fahren mit schweren Anhängern (ab 1,5t; Führerscheinklasse BE) lernen. Formal darf ich das zwar, habe es aber seit Jahren nicht mehr gemacht. Und ehe ich ein Gespann fahre, dessen Anhänger einen Wert ab 60.000 Euro hat (incl. gefüllter Propangas-Flaschen), nehme ich lieber noch ein paar Fahrstunden zur Auffrischung.

Daniel ist ein super Fahrlehrer: entspannt, fokussiert („Die Grundlagen kannst du. Jetzt lass uns für deinen speziellen Anwendungsfall trainieren …“), humorvoll und ehrlich („Also, mit Anhänger rückwärtsfahren muss man mit jeder Gespann-Konstellation neu üben. Den S-kurvigen Feldweg habe ich gerade selbst ausprobiert, um zu schauen, ob ich nicht irgendetwas völlig Unmögliches von dir verlange. Es ist machbar. Los geht’s …“). Das Fahrschulgespann besteht aus einem großen SUV und einem doppelten Pferdeanhänger mit Tandem-Achse. Nachdem ich den Feldweg (und seine S-Kurven) rückwärts gut bewältigt habe (ich glaube, dazu schreibe ich einen separaten Blog-Beitrag …), meinte Daniel: „Gut gemacht. Jetzt üben wir Engstellen in der Stadt.“

Wer Lübeck kennt, weiß, davon gibt es viele, und ihre Anzahl wird durch die unendliche Zahl der Baustellen noch erhöht. Zielsicher dirigiert mich Daniel in eine meiner Lieblingsproblemstellen: eine große Kurve, vor einer Schule (normal 30 km/h, jetzt 10 km/h), durch die Baustelle nur einspurig, Vorrang des Gegenverkehrs … Ich warte, bis für mich und mein Gespann eine Lücke ist – ja, da hinten kommt ein anderes Auto, aber es ist noch 50 m von der Einfahrt in die Baustelle entfernt. Und irgendetwas wird mir wahrscheinlich immer entgegenkommen. „Gut entschieden“, kommentiert Daniel trocken.

Die Baustelle ist um die 300 m lang (und eng…). Ich bin schon 100 m unterwegs, als der PKW auf der andere Seite auch einfährt, mir entgegen. Reflexartig versuche ich, auszuweichen – was nicht geht: es gibt nur eine Spur, links ist der Gehweg mit hohem Bordstein, rechts Baken, das Gespann deutlich länger als der Baken-Abstand. „Du kannst nicht ausweichen – und du solltest auch nicht den Eindruck erwecken, als würdest du’s versuchen“, sagt Daniel, „Das nutzen die anderen nur aus – und erst dadurch gibt es Drama.“ Er kennt mich inzwischen gut genug, um auch aus meinem Profil ablesen zu können, was ich denke – während ich den Tacho und die seitlichen Außenspiegel fixiere.  „Das andere Auto hat dich gesehen: wir sind groß und lang und können nicht Platz machen. Das weiß er. Er hat dort vorn eine Einfahrt. Fahr in der Mitte der Spur – das reduziert auch die Gefahr, mit dem Anhänger anzuecken. Lade sie nicht ein, dich zu ignorieren. Manchmal musst du dich breit machen …“

Daran muss ich denken, als ich im globalen PI-Planning-Meeting sitze, als EPIC-Owner eines standortbezogenen Roll-out-Projekts (die aktuelle Software ist abgekündigt, Teile des Unternehmens haben bereits migriert, diverse Systeme und Prozesse werden parallel betrieben …). Natürlich gibt es kleinere EPICs mit höherem Nutzen, in der Regel sogar einem besseren Business Case. Letztlich ist das nicht entscheidend, denn das Gespann wurde von anderen gestellt – ich fahre es nur. Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass wir sicher „durch“ kommen und nichts beschädigen. Deshalb, an all die schicken Themen, die mir da entgegenkommen: Da vorn ist eine Einfahrt, bitte weicht aus, lasst mich passieren – und wir kommen alle an Ziel. Am Ende ist dann alles gut für euch und für mich 🙂

Bildnachweis: Iryna Bauer (iStock photo)

Über die Autorin
Susanne Patig

BWL studiert, in Informatik promoviert, branchenunabhängig unterwegs in Großprojekten und Transformationen. Fan von Perspektivwechseln.

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